In jener Zeit verließ Jesus das Gebiet von Tyrus und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis. Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren.
Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit, und er konnte richtig reden.
Jesus verbot ihnen, jemand davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.
„Es verschlägt mir die Sprache!“ „Das Wort bleibt mir im Halse stecken!“ „Mit dir rede ich kein Wort mehr!“ Sprichwörter und Redensarten, die deutlich machen, was zwischen Menschen passiert, die nicht mehr miteinander reden können, denen es buchstäblich die Sprache verschlägt. Dahinter verbergen sich Erfahrungen und Erlebnisse, die Menschen sprachlos machen, obwohl wir reden könnten: Worte, die verletzt haben, Aussagen, die ich gemacht haben, die von anderen verdreht oder missbraucht wurden.
Es gibt die Erfahrung, dass Menschen stumm geworden sind, weil nie jemand auf sie gehört hat, weil ihre Worte ins Leere gingen, weil sie nicht ernst genommen wurden.
Dasselbe könnten wir durchspielen mit der Erfahrung des Taubseins. Die Aussage „Ich will, ich kann nichts mehr hören!“ bringt im Grunde die eigene Angst und Unsicherheit zum Ausdruck. Was „zum einen Ohr hinein und zum anderen Ohr gleich wieder hinaus geht“ lässt mich kalt. Wenn ich auf „Durchzug“ schalte, kommt nichts bei mir an. Viele Worte und Stimmen strömen täglich auf uns ein. Bei dieser Wortflut ist die Gefahr groß, die Worte des einzelnen Menschen mit seinem Anliegen zu überhören, die Botschaft nicht zu verstehen, die hinter seinen gesprochenen Worten steht.
Solch ein Taubstummer ist die Hauptperson in unserem heutigen Evangelium. Er kann nicht hören außer seinen eigenen Gedanken. Er kann mit niemandem reden, außer mit sich selbst. Isoliert von anderen kann er nur noch um sich selbst kreisen. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Zeitgenossen Krankheit als Strafe Gottes ansehen. Dies bedeutet für den Kranken den Ausschluss aus jeder religiösen und menschlichen Gemeinschaft. So ist er beziehungslos und kann nicht einmal mehr selbst auf seine Not aufmerksam machen. Andere bringen ihn zu Jesus. Und Jesus: Er holt ihn heraus aus der Menge, denn er nimmt ihn wahr. Jesus bleibt nicht auf Distanz. So zeigt er ihm: Du bist mir wichtig. Ganz nahe geht Jesus an ihn heran und wendet sich ihm alleine zu. Er kommt mit ihm in Berührung. Zuerst legt ihm Jesus die Finger in die Ohren, voller Zärtlichkeit und doch durchbohrend. Jesus berührt den Gehörgang und macht ihn frei – frei von Floskeln, von Allgemeinplätzen, von Vorurteilen, frei von Belehrungen und Ermahnungen und religiösen Sprüchen, frei von Schuldgefühlen und quälenden Fragen.
Dann berührt Jesus die Zunge des Mannes mit Speichel. Die Speichelübertragung auf ein krankes Organ war in der Antike als Mittel zur Heilung bekannt.
Und jetzt kann Jesus sagen: Effata – öffne dich. Durch seine Berührung, durch seine Nähe kann der Mann hören. Er vernimmt die Botschaft der Liebe. Jetzt kann er sprechen. Jetzt löst sich die Fessel der Angst. Er kann sich mitteilen, er kann bezeugen, wer Jesus ist und was er getan hat – und so kommen andere zum Glauben.
Vielleicht denken Sie jetzt: Ja, eine Heilungsgeschichte damals – aber wir heute?
Dieses Evangelium will jeden von uns ermutigen, bei mir selbst zu entdecken, wo ich stumm und taub geworden bin durch das, was mein Leben, mein Alltag so alles mit sich gebracht hat. Das Evangelium lädt uns ein, uns von Jesus aus der Menge herausnehmen zu lassen, um wieder zu uns selbst und zu Gott zu kommen.
Außerdem lädt es uns ein, uns füreinander zu öffnen, so dass wir selbst aus unserem Taub- und Stummsein herauskommen können. Effata – öffne dich – diese Einladung gilt jedem und jeder von uns.
Bärbel Schumacher