Jesus fuhr wieder ans andere Ufer hinüber und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn. Während er noch am See war, kam einer der Synagogenvorsteher namens Jaïrus zu ihm.
Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen und flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt!
Da ging Jesus mit ihm.
Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn. Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.
Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Und sofort versiegte die Quelle des Blutes und sie spürte in ihrem Leib, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt?
Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt?
Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit.
Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.
Liebe Christinnen und Christen,
es ist schon sehr ungewöhnlich, ja für die Zeit Jesu im Grunde genommen unvorstellbar, wie sich die Frau im heutigen Evangelium verhält. Mut der Verzweiflung nennen wir das, und würde die Frau selbst zu uns sprechen, würde sie uns vielleicht folgendes sagen:
Diese Frau ist wirklich verzweifelt. Und dann geschieht tatsächlich das, was sie erhofft und erbetet hat: In dem Moment der Berührung hört die Blutung auf.
Und Jesus? Obwohl um ihn herum geschubst und gedrängelt wird, spürt er diese winzige, zarte Berührung. Er spürt, dass da jemand völlig offen ist für die Kraft, die von ihm ausgeht. Für die Jünger ist das absolut unverständlich. Jesus aber dreht sich um und holt die Frau zu sich. Es ist klar, dass sie Angst hat, denn sie hat ja schwer gegen das Gesetz verstoßen. Aber das ist für Jesus überhaupt kein Thema. Für ihn steht der Mensch, steht die Frau im Mittelpunkt. Über falsche Normen und Gesetze setzt er sich hinweg. Damit nimmt er – man muss fast sagen: wieder einmal – den sogenannten Autoritäten ihre Autorität. Im Grunde macht Jesus damit deutlich: Solche übertriebenen Gesetze und Vorschriften sind nicht in Gottes Sinn, weil sie Menschen, besonders die Frauen, vom Leben ausschließen. Das wird auch daran sichtbar, dass Jesus kein Reinigungsopfer von der Frau verlangt, wie es das Gesetz vorschreibt. Sie ist jetzt und für immer geheilt. Sie gehört ohne jede Bedingung zur menschlichen Gemeinschaft und zur Gemeinde.
Manche würden vielleicht sagen: Die Frau ist hinterhältig und illegal vorgegangen. Doch Jesus sieht ihren Mut und ihr aktives Handeln. Er weiß, dass dies aus ihrem tiefen und festen, wenn auch verzweifelten Glauben entspringt. Denn nur der Glaube macht offen für Gottes Kraft.
Meine Tochter, so spricht Jesus die Frau an. Im ganzen Neuen Testament kommt diese Anrede nur zweimal vor. Der Frau wird gleichzeitig innerlich und äußerlich Frieden und Heilung zuteil. Sie ist nicht mehr Ausgestoßene, sondern voll angenommen als Kind des Vaters im Himmel.
Was können wir persönlich aus dieser Begegnung heraus hören?
Jesus Antwort gilt jedem von uns: Meine Tochter, mein Sohn, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden.
Bärbel Schumacher